Leben mit Diabetes: mehr als nur Zahlen
Wer mit Diabetes lebt, der weiß, dass Diabetes nicht endet, wenn alle Kohlenhydrate und Insulinmengen berechnet sind, wenn die Zahlen notiert und ausgewertet wurden. Diabetes macht es sich in jedem Teil des Lebens gemütlich. Insbesondere da, wo man ihn gerade am wenigsten gebrauchen kann. Gleichzeitig machen viele die Erfahrung, dass beim Besuch in der diabetologischen Praxis erstmal nur die Glukosewerte und andere klinische Messgrößen eine Rolle spielen. Doch es geht auch anders, Diabetologie kann den ganzen Menschen und das ganze Leben im Blick haben und dabei unterstützen, den Alltag in all seiner Komplexität mit Diabetes zu meistern. Deswegen freut es mich riesig, dass ich beim DDG Kongress einen großen Teil des Programms mit Veranstaltungen rund um psychologische und im weitesten Sinne ganzheitliche Ansätze in der Diabetologie und der diabetologischen Forschung füllen konnte.
Integrative Typ-1-Diabetelogie: ganzheitlich behandeln
Den Auftakt machte ein Symposium zu integrativer Typ-1-Diabetologie von Dr. Bettina Berger von der Universität Witten-Herdecke. Die integrative Medizin verbindet konventionelle und Komplementärmedizin. Sie ist ressourcenorientiert, schaut also auf all das Gute, all die Potenziale und Ressourcen, die schon da sind, und zielt darauf ab, Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Dabei geht es nicht darum, Wunderheilungen zu vollbringen, sondern den Menschen in seiner Gänze dazu in die Lage zu versetzen, gesund zu werden - durch Bewegung, gesunde Ernährung, Entspannung, und alles, was die konventionelle Medizin an Tools zu bieten hat. Die integrative Medizin ist im Kontext chronischer Erkrankungen wie Rheuma oder chronischen Rückenschmerzen sogar in nationale Versorgungsleitlinien in Deutschland integriert. Auch bei Tumorerkrankungen gehören beispielsweise Kurse zur achtsamkeitsbasierten Stressreduktion mit in die Leitlinien. Dass systematische Angebote rund um Bewegung und Achtsamkeit auch für Menschen mit Diabetes hilfreich sein können, wurde auch in zahlreichen anderen Sessions klar. In der Sitzung zur integrativen Medizin wurden zwei Studien vorgestellt: Franziska Gräf präsentierte eine Analyse zum Einfluss des Fastens auf das Mikrobiom bei Menschen mit und ohne Typ-1-Diabetes, und Prof. Dr. S. N. Gupta und Dr. Peter Abend berichteten als Arzt-Patienten-Tandem von Peter Abends positiver Erfahrung mit einer sechswöchigen Ayurveda-Kur (mehr dazu auf ayurpeter.de).
Auch Missverständnisse sind möglich
An Tag 2 gab es einen weiteren sehr vielversprechend klingenden Slot: „Diabetes mellitus: den ganzen Menschen sehen, den Menschen in seiner Gesamtheit behandeln“. Das klang für mich danach, emotionale und soziale Faktoren mit in die Behandlung einzubeziehen, bewusst auch über Ernährung und Bewegung zu sprechen, über Entspannung und Stress, über Routinen im Alltag, die das Diabetesmanagement einfacher oder schwerer machen. Doch die Perspektive war deutlich technischer: mit großer Expertise und Erfahrung nahm uns der Vortragende mit auf eine Reise durch den Körper und die verschiedenen Stellen, an denen Insulin wirkt. Aufs Gehirn, auf die Fettzellen, aufs Herz, auf alle Gefäße und Organe – einfach überall. Eine wichtige Perspektive – auch wenn mir die sozialen und psychologischen Aspekte ein bisschen zu kurz kamen.
Harter Tobak: Suizidalität und Diabetes
Dafür ging es in einem anderen Vortragsblock ganz gezielt nur um psychologische Aspekte des Diabetes, insbesondere die schwierigen, negativen Neben- und Wechselwirkungen wie Depression und Suizidalität. Dieses Thema ist wichtig, denn Menschen mit Diabetes, insbesondere Typ-1-Diabetes, haben im Verhältnis zum Rest der Bevölkerung ein deutlich höheres Risiko, einmal oder mehrfach eine Depression oder Angststörung zu entwickeln. In den ersten Jahren nach der Diagnose steigt die Häufigkeit von psychiatrischen Erkrankungen, insbesondere Depressionen, stark an – doch nach zehn Jahren und mehr sinkt sie wieder deutlich (bleibt aber trotzdem über dem Durchschnitt der Bevölkerung ohne Diabetes). Deswegen wäre es wünschenswert, im Praxisalltag entsprechende Fragen zu stellen, Gesprächsräume zu öffnen, und die Betroffenen dann auch zu entsprechenden Hilfsangeboten weiterzuleiten, bevor die Situation eskaliert.
Ehrliches Interesse bringt weitaus mehr als Vorwürfe und Ermahnungen
In einer weiteren Session präsentierte Dr. Susan Clever ein leidenschaftliches Plädoyer für die Menschen mit Diabetes und ihre Mühen, ihr Leben so gut wie möglich zu gestalten und ihren Alltag mit den Anforderungen des Diabetesmanagements in Einklang zu bringen (oder umgekehrt). Gerichtet an alle Diabetes-Teams appellierte sie: „Gehen Sie immer davon aus, dass der Mensch, der Ihnen da gegenübersitzt, alles tut, damit es ihm oder ihr gut geht“. Dass manche Verhaltensweisen von außen gesehen nicht zielführend sind, ist ein anderes Thema – aber ehrliches Interesse, Verständnis, und eine große Offenheit für die Themen der Menschen, bringen beide Seiten viel weiter als Vorwürfe oder ein „Sie müssen aber“. „Sie müssen aber” ist in etwa so wie „Aber du darfst doch keinen Zucker essen, du hast doch Diabetes“ – worauf das Internet antwortet „Ich darf alles essen, nur keine Kekse mit Gift drin. Oder gelben Schnee.” In diesem Sinne hoffe ich, dass die Diskussionen und Erkenntnisse aus diesen spannenden Symposien auf der DDG Jahrestagung 2024 nach und nach immer mehr in die Breite der Diabetologie kommen, und dass ganzheitliche Ansätze in der Therapie in einigen Jahren die Normalität sind.
Ein riesengroßes Dankeschön an #dedoc als Organisation, an das Team vor Ort, an alle anderen Voices, und an die DDG, die uns aufgenommen hat.