Fühle ich mich behindert? - Ein Erfahrungsbericht rund ums Thema Schwerbehinderung

Hallo, ich bin Vicky und ich habe seit meinem 16. Lebensjahr Typ-1-Diabetes. Als ich von der Möglichkeit der Beantragung eines Schwerbehindertenausweises erfuhr, stellte ich mir lange Zeit die Frage: „Fühl ich mich überhaupt ‚behindert‘?“, oder: „Habe ich mit Diabetes überhaupt einen Schwerbehindertenausweis verdient?“

Quelle: Victoria Zehrt

Es hat fast ein Jahr Überlegung gebraucht, bis ich mir dachte: „Sche*ß drauf, jeden Tag ärgerst du dich mit denselben endlosen Gedanken rum, wie viel du auf deinem Teller hast, was du spritzen musst oder wieso der Zuckerwert nicht so will, wie du willst.“

Zudem kam mir der Begriff „Behinderung“ sehr drastisch vor. Spätestens beim Antrag habe ich dann nachdenken müssen, was denn überhaupt Gründe sind, weshalb Diabetes Typ1 diesen Ausweis „wert“ ist.

Dazu gibt es eine Versorgungsmedizinverordnung, die die Grenze für 50% Grad der Behinderung (GdB), welche man für den Ausweis braucht, folgend definiert: „An Diabetes erkrankte Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbstständig variiert werden muss und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtig sind.“ ¹

Schmunzeln musste ich dann nur, als ich gesehen habe, dass die Überschrift in diesem Gesetzestext „Zuckerkrankheit“ ist.

Ich fühle mich eingeschränkt

Als ich das gelesen habe, war ich erstmal happy, weil ich mir dachte: „Wow, genau diese Dinge und noch mehr leistest du jeden Tag.“ Von den Einschränkungen wollte ich gar nicht anfangen, in meinem Kopf hatte ich sofort eine ganze Liste an Dingen, bei denen mich der Diabetes täglich einschränkt.

Gesagt, getan. Der Antrag wurde guten Gewissens zur Post gebracht und einige Wochen später kam dann der Schock. Das Landratsamt wollte mir gerade einmal 20% GdB anerkennen. Das hieße lediglich, dass meine Therapie „nur“ Hypoglykämien auslösen kann und ich nur eine Teilhabebeeinträchtigung hätte. Dabei ist es so viel mehr.

Quelle: Victoria Zehrt

Schnell habe ich dann einen langen Text über meine alltäglichen Herausforderungen als Widerspruch eingereicht, wodurch ich dann 40% GdB anerkannt bekam. Weil ich damals nicht die Nerven und Erfahrungen hatte, mich mit dem Problem auseinanderzusetzen, habe ich diese Einstufung erstmal akzeptiert.

Zwei Jahre später habe ich dann erneut einen Antrag gestellt, bei dem an den bereits vergebenen 40% GdB festgehalten wurde. Dies wollte ich nicht akzeptieren und nach zwei Widersprüchen und einer Vorlage beim Sozialamt war meine einzige Möglichkeit das Landratsamt zu verklagen.

Am Anfang hatte ich davor sehr viel Respekt und habe auch lange überlegt, ob ich diesen Schritt gehen möchte. Ich wusste ab dem Moment würde eine harte Zeit auf mich zu kommen.

Und dann kam die Anklage

Ich habe also das Landratsamt beim Sozialgericht angeklagt. Das Ganze ist nun knapp 1,5 Jahre her. Seitdem wurden um die fünf Stellungnahmen von mir geschrieben, jeweils mehrere Seiten lang. 15 Seiten Text darüber, wie mich der Diabetes im Alltag belastet, welche Beeinträchtigungen die Krankheit sowie die Therapie mit sich bringt und wie ich trotz meiner Mühen oft unter dieser leide. Oftmals habe ich überlegt, warum ich den Ausweis möchte, und ob es mir den gesamten Stress und die Nerven überhaupt wert sind.

Um einmal die Vorteile kurz zusammenzufassen: Je nach Grad der Behinderung, Wertmarke und Merkzeichen, kann man den ÖPNV vergünstigt oder kostenlos nutzen, es gibt Vorteile bei der KFZ-Steuer, man hat Anspruch auf Zusatzurlaub oder sogar früheren Renteneintritt und es gilt besonderer Kündigungsschutz.

Letzteres könnte ein Nachteil werden, da das einige Unternehmen kritisch finden. Doch aufgrund dieser Voreile halte ich auch weiter an dem Ausweis fest, denn ich denke mir immer: „Ich gebe so viel für die Krankheit, warum nicht auch mal etwas zurückbekommen“.

Hoffnung durch die Community

Ich glaube an dieser Stelle könnt ihr mich verstehen, ich denke jede(r) Betroffene fühlt sich mindestens genauso eingeschränkt oder hat eventuell noch einige Folgeerkrankungen, von denen ich bis auf mein „Glaukom“ und eine Vorstufe von „Hashimoto“ weitestgehend verschont geblieben bin. Doch die gesamte Zeit des Rechtsstreites frag ich mich, warum Diabetes so von der Gesellschaft aberkannt wird. Oftmals habe ich das Gefühl, dass sehr viele Menschen nicht wissen, wie einschränkend diese Erkrankung wirklich ist. Seien es nun die körperlichen oder auch psychischen Einschränkungen.

An der Stelle war ich dann sehr froh Teil einer aufmunternden Community zu sein. Zu lesen, dass es einige geschafft haben den „Status“ der Schwerbehinderung zu bekommen, hat mir das Gefühl gegeben, dass es nicht komplett unmöglich ist.

Der Rechtsstreit läuft immer noch und ich halte auch weiterhin an meiner Entscheidung fest. Aufgeben ist für mich keine Option. Ich möchte ein Zeichen setzen, und auch weiterhin alle, mit denen ich über das Thema spreche oder die hier gerade von mir lesen ermutigen, sich nicht von Ämtern unterkriegen zu lassen, denn die Menschen, die dort sitzen, können, sofern sie nicht selbst betroffen sind, die Einschränkungen nicht nachvollziehen.

¹: VersMedV: https://www.gesetze-im-internet.de/versmedv/BJNR241200008.html

Victoria Zehrt

Für Victoria ist der Austausch in der Community von großer Bedeutung, denn er hat ihr geholfen, zu ihrem Diabetes zu stehen und ihn offen zu zeigen und auch über ihn reden zu können. Aus diesem Grund ist sie auch ehrenamtlich bei „Blickwinkel Diabetes e.V.“ tätig.

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Selbstwirksamkeit in der Selbstbehandlung