DDG-Kongress 2023: Arzneimittel-Therapiesicherheit

Arzneimitteltherapiesicherheit als Teil der Arzneimittelsicherheit 

Jede/r MER-Studierende muss ein Praktikum in dem Bereich machen, in dem sie oder er nicht vorgebildet ist, Juristinnen und Juristen also im medizinischen Bereich. Mein Praktikum fand im Frühjahr, kurz vor dem Diabeteskongress 2023, im Krukenberg Krebszentrum Halle statt, einer gemeinsamen Einrichtung des Universitätsklinikums und der Medizinischen Fakultät meiner Uni, der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Jeder Tag war anders und spannend! Ich konnte mir viele verschiedene Stationen und Arbeitsbereiche im Universitätsklinikum ansehen und im Bereich der Studien auch ein bisschen mitarbeiten. 

Die klinischen Arzneimittelstudien hatte ich wohl noch im Hinterkopf, als ich mir beim Kongress mal ein ganz anderes Thema als sonst aussuchte: Arzneimitteltherapiesicherheit. Die sehr guten Vorträge haben mich ins Grübeln gebracht – und bis heute nicht ganz losgelassen. Wenn ich nur mehr Zeit hätte, würde ich gerne ein bisschen tiefer in die Materie eintauchen, ich werde euch auch noch erzählen, warum das so ist, nur Geduld! 

Der Eingang zum DDG Diabetes Kongress 2023 / Quelle: Saskia

Zunächst war ich etwas überrascht, dass es gar nicht um Arzneimittelstudien ging. Tja, wer lesen kann, ist klar im Vorteil: Es hieß ja auch nicht Arzneimittelsicherheit, sondern Arzneimitteltherapiesicherheit. Anschaulich wurden wir daran erinnert, dass Arzneimittelsicherheit nicht bei Studien und Zulassung aufhört, sondern im Alltag weitergeht. Gerade auch für uns, deren Diabetes und womöglich weitere Erkrankungen medikamentös behandelt werden müssen, ein sehr wichtiger Punkt! 

Persönliche Erfahrung 

Warum? Ich habe da mal ein Beispiel für euch aus meinem persönlichen Erfahrungsschatz: Ich kann mich noch gut an meine erste Schleimbeutelentzündung im rechten Schultergelenk erinnern, obwohl das schon gut 20 Jahre her ist. Offensichtlich hatte ich es beim Frühjahrsputz der drölfzig Bücherregale übertrieben – und das sehr bereut. Der Orthopäde gab mir eine Spritze ins Gelenk und meinte, das würde meine Blutzuckerwerte für 1-2 Tage erhöhen, ich sollte dann halt etwas mehr Insulin geben. Als ich einige Zeit später bei meinem nächsten Quartalstermin erwähnte, dass ich stattdessen drei Wochen „Spaß“ gehabt hatte, meinte mein Diabetologe, dann sei das wohl eher eine Depotspritze gewesen. Auf jeden Fall hätte ich aber vorher zu ihm kommen müssen, um die Therapieanpassung zu besprechen. So lernte ich auf unangenehme Weise, dass sich Kortisonspritzen auf die Blutzuckerwerte auswirken – je nach Dosierung auch erheblich. Vielleicht habt ihr diese Erfahrung bereits selbst gemacht. 

Fragen, die die Behandelnden stellen sollten 

Wenn es um die Wechselwirkungen zwischen Medikamenten geht, können sogar Behandelnde nicht immer alles gleich im Blick haben, daher empfehlen sich Fragen wie diese:  

Werden Medikamente wie gemeinsam vereinbart verwendet? Tja, womöglich nur in der grauen Theorie. Bei einer alten Dame, die als Beispiel diente, verwunderte mich angesichts ihrer 17 (!) Medikamente jedenfalls nicht das Mittel gegen Depressionen auf ihrer ellenlangen Liste. Ist man in diesem psychischen Zustand überhaupt in der Lage, alles „brav“ einzunehmen? Eine andere Patientin hatte von zwei verschiedenen Behandelnden insgesamt zwei gute Dutzend Medikamente verschrieben bekommen, stellte sich daraus ihre eigene aus-2-mach-1-Liste zusammen und kam so auf 13 (!) Einnahmezeitpunkte. Wenn die Damen das eine oder andere vergessen würden oder absichtlich wegließen, hätte ich vollstes Verständnis. Aber das wäre vermutlich nicht zielführend. 

Ab einem gewissen Punkt sollten die Behandelnden daher überlegen, ob die Risiken mehrerer Medikamente beginnen, ihren potenziellen Nutzen für eine einzelne Patientin oder einen einzelnen Patienten zu überwiegen, und/oder sich weitere Fragen stellen: Kann man – bei hoher Medikamentenlast – auf Kombinationspräparate ausweichen? Sind Medikamente dabei, die sich für ältere Menschen oder in der Kombination mit anderen als ungeeignet herausgestellt haben und daher von der Liste gestrichen werden sollten? Lassen sich Verordnungskaskaden, verursacht durch Neben- und Wechselwirkungen, mithilfe von Medikationsalternativen vermeiden?  

Auch hier zog sich der rote Faden des Kongresses entlang: Jede/r Patient/in ist individuell zu betrachten. 

Warum ist das für Menschen mit Diabetes besonders wichtig? 

Hintergrundwissen: 

  • Jede/r Zweite mit Typ-2-Diabetes (ohne Diabetes jede/r 7.) ist von mindestens drei chronischen Erkrankungen betroffen und bekommt dauerhaft fünf oder – etwa mit steigendem Alter – mehr Arzneimittel verordnet (Polymedikation). Hinzu kommt die Selbstmedikation, Bsp.: Schmerzmittel, Johanniskraut. (Studie aus England, 20221).  

  • Bei mehreren Behandelnden (z.B. Hausarzt und Fachärztin) sind die verordneten Arzneien oft nicht aufeinander abgestimmt. Medikamentenpläne könnten und sollten verschlankt werden. Im Moment ist das allerdings nicht ganz einfach, wenn aktuelle Lieferengpässe die Verordnungsmöglichkeiten einschränken, z.B. weil irgendwo die Produktion lahmgelegt ist oder weil ein Diabetesmedikament von Menschen ohne Diabetes als Mittel zum (vorübergehenden) Abnehmen zweckentfremdet wird. 

  • Polymedikation kann ein Grund für eine Krankenhauseinweisung werden. Ein Fachartikel, der auf einem schottischen und einem EU-Programm zur Polymedikation beruht, geht davon aus, dass die Hälfte dieser Fälle vermieden werden könnte.2 

  • Menschen mit Diabetes haben oft keinen Insulintherapieanpassungsplan, wenn sie ins Krankenhaus kommen, oder ein im Krankenhaus neu erarbeiteter Therapieplan wird z.B.  von der Pflegeeinrichtung nicht übernommen, sodass die nächste schwere Hypoglykämie vorprogrammiert ist. 

  • Vor allem – aber nicht nur – im stationären Bereich können Apothekerinnen und Apotheker die Behandelnden unterstützen, die individuell wirksame und angemessene Medikation zu wählen, s.a. die aktuelle Nationale VersorgungsLeitlinie zu Typ-2-Diabetes3 (NVL). Eine Studie aus Sachsen-Thüringen (ARMIN) hat gezeigt, dass besser aufeinander und auf die Behandelten abgestimmte Medikationen dazu führen, dass die Medikamente auch eher eingenommen werden.4 (Übrigens musste die alte Dame bei der „aufgeräumten“ Variante ihres Medikamentenplans „nur“ noch 9 Arzneimittel zu 2 Einnahmezeitpunkten nehmen – ein Antidepressivum war nicht mehr dabei. Sic!) 

Symbolbild von Polymedikation / Quelle: Saskia

Bei Saskia darf aber das Thema Technologie nicht fehlen, oder? 

Beinahe zuletzt doch noch zur Technologie, die ja sonst eher mein Thema ist: Der oft verwendete (ab 3 Medikamenten) bundeseinheitliche Medikationsplan (BMP) ist in fast 80% der Fälle unvollständig und nicht aktuell, hieß es. Ich finde ihn sehr schön übersichtlich, aber er ist halt in Papierform, man kann ihn sich also hübsch sauber abheften oder an seine Kühlschrankmagnete von Urlaubsorten, Museumsstücken oder lustigen Sprüchen hängen, aber wer trägt den denn immer mit sich herum? Und beim neuen (Fach)Arzt oder im Krankenhaus vergisst man vor Aufregung womöglich, nicht täglich verwendete Medikamente zu erwähnen, sodass Angaben auch deswegen unvollständig sein können. Vielleicht bessert sich die Situation mit der Einführung des Elektronischen Medikationsplans (eMP), zumindest besteht damit eine reelle Chance.

Dann wären auf Wunsch der gesetzlich Versicherten ihre Medikationslisten für jeden Behandelnden und in der Apotheke verfügbar und zusätzlich könnten zum Beispiel Allergien aufgenommen werden. Wenn die Apotheke über die entsprechende Software verfügt, kann dort rasch die Arzneimitteltherapiesicherheit überprüft werden, also geschaut werden, inwieweit sich die Arzneien miteinander vertragen, in der Charité z.B. wird das schon lange genutzt. ABER: Der Medikationsplan erstellt sich nicht von allein und es ist jetzt noch wichtiger denn je, dass er aktuell ist. Mein Arzt hat mir bei einem der letzten Termine die Relevanz sehr deutlich vor Augen geführt, als er sagte, ich könne ja auch mal ins Krankenhaus kommen und mich nicht mehr äußern können.  

Persönliches Fazit: Hinterfrage alles, was du nicht verstehst 

Zum Schluss möchte ich noch kurz darauf eingehen, warum mir diese Vorträge immer noch im Hinterkopf herumschwirren: sie haben meine Sensibilität für das Thema erhöht. Vor ein paar Monaten musste ich ein Antibiotikum nehmen und auf dem Beipackzettel stand, man solle es bei starken Blutzuckerschwankungen nicht einnehmen. Das hat natürlich mein Interesse geweckt, ich wollte wissen, ob Antibiotika generell Auswirkungen auf den Blutzucker haben. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals vorher davon gelesen oder gehört zu haben. Aber solche Dinge sind für uns wirklich wichtig zu wissen, und die Beschreibung in der Packungsbeilage fand ich doch sehr unpräzise und viel zu dünn. Die Online-Recherche ergab zunächst wenig, es war eher von Unterzuckerungen im Zusammenhang mit bestimmten Typ-2-Diabetes-Medikamenten und Antibiotika die Rede. Bei mir war der Insulinbedarf aber etwas erhöht gewesen, allerdings auch nicht so, dass ich es zwingend auf das Medikament hätte zurückführen können, es hätte auch schlicht zu wenig Bewegung sein können.

Bei der Verwendung anderer Suchwörter, u.a. dem Arzneistoff, wurde ich fündig: In der Deutschen Apotheker Zeitschrift heißt es vor genau 5 Jahren, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM, habe „die Zulassungsinhaber zur Anpassung der Packungsbeilagen und Fachinformationen“ aufgefordert, es gehe „um Störungen des Blutzuckerspiegels, inklusive Hypoglykämien und Hyperglykämien.“ „Auch Fälle von hypoglykämischem Koma seien berichtet worden.“ Es müsse „bei allen Diabetikern [=Menschen, die Diabetes haben] eine sorgfältige Überwachung der Blutzuckerwerte empfohlen werden.

Also mein HNO-Arzt schien das noch nicht zu wissen. Es geht übrigens um Fluorchinolone, z.B. Ciprofloxacin. Wenn ich den Beipackzettel lese, frage ich mich, ob der „Autor“ verstanden hat, was seine Aufgabe war. Ich kann diesen paar dürren Worten jedenfalls nicht entnehmen, worum es tatsächlich geht! 

Wenn man dann weitersucht, findet man plötzlich immer mehr Medikamente, die als Nebenwirkung den Blutzucker senken, es ist mir aber nicht ganz klar, ob sie das allein tun oder ob sie die Wirkung von oralen Diabetesmedikamenten erhöhen, also vielleicht für die, die ausschließlich Insulin verwenden, nicht diese Wirkung haben. Da werde ich wohl noch länger recherchieren müssen, aber mein Studium geht erstmal vor – zumindest theoretisch, im Moment habe ich schon wieder einen Infekt, dieses Semester läuft gesundheitstechnisch nicht so klasse. Für gewöhnlich kämpfe ich bei Infekten gegen Unterzuckerungen an und brauche meist 50% weniger Insulin, im Moment ist das Gegenteil der Fall: plus 30%. Das kennen viele von euch bestimmt gut, weil das wohl der Normalfall ist. Jetzt frage ich mich natürlich, liegt das am (anderen) Antibiotikum? (Laut Recherche nicht.) Am Infusionsset? Am andauernden Bewegungsmangel durch zu viel Sitzen am PC? Oder werde ich mit zunehmendem Alter normaler? (Ich hoffe nicht…)  

Für euch mit auf den Weg 

Vielleicht konnte ich mit meinem kleinen Einblick in das Kongress- und mein Privatleben eure Sensibilität für das Thema ebenfalls erhöhen. Passt gut auf euch auf, besonders wenn ihr weitere Medikamente braucht! Und wenn ihr bei euch bestimmte Körperreaktionen auf Arzneimittel bemerkt, die nicht im Beipackzettel enthalten sind (wobei nicht jede Korrelation eine Kausalität ist, d.h. selbst wenn zwei Dinge mehrfach gleichzeitig auftreten, muss trotzdem nicht die eine Sache der Grund für die andere sein oder beide zusammen die Reaktion hervorrufen, es kann auch eine dritte, ganz andere Ursache geben), überlegt mal, ob ihr das mit eurer Ärztin/Apothekerin oder eurem Arzt/Apotheker besprechen mögt („bei Risiken oder Nebenwirkungen…“) oder euch direkt an das BfArM wendet, damit im Falle eines Falles ein Beipackzettel überarbeitet wird – hoffentlich anständig! 

Alles Liebe, Saskia 

Saskia Wolf

Saskia Wolf nutzt seit Mai einen DIY-Loop und spricht auf Diabeteskonferenzen, in HCP-Schulungen, im Fernsehen und in Artikeln über ihre Erfahrungen damit. Mit ihrem Engagement hat sie den Weg für innovative Ansätze in der Diabetesbehandlung geebnet und ist schon seit 2019 eine #dedoc° voice. Sofern es ihr Studium in Medizin-Ethik-Recht zulässt, setzt sie sich für mentale Gesundheit und #LanguageMatters ein.

https://saskiawolf.de/
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